Es ist schon verrückt: Obsidian war 2020 für mich das Album des Jahres, Tragic Idol von 2012 hatte ich damals fast mit der Höchstnote bewertet – und ich war mir sicher, dass Paradise Lost dieses Level nicht mehr toppen würden. Umso überraschender ist nun Ascension, das sich langsam, aber unaufhaltsam in mein Gehör gebrannt hat. Beim ersten Durchlauf war ich noch skeptisch, die Platte hat mich nicht sofort gepackt. Doch in den letzten Tagen habe ich sie fünf- oder sechsmal hintereinander gehört – und plötzlich war klar: hier liegt das stärkste Werk seit Draconian Times auf dem Tisch.
Dass dieses Album so klingt, wie es klingt, ist kein Zufall. Gregor Mackintosh hat nach den Sessions zu Icon 30 sämtliche Songs verworfen, die er seit Obsidian geschrieben hatte, weil sie ihm nicht gut genug erschienen. Durch die Neuaufnahmen von Icon 30 ist er erst wieder so richtig in diese alten Vibes gekommen und hat sich dadurch in das Mindset von 1993 zurückversetzt. Genau das hört man auch: Schon die Eröffnung mit „Serpent on the Cross“ und „Tyrant’s Serenade“ macht klar, dass hier die Essenz der frühen Neunziger in zeitgemäßer Produktion zurückkehrt. Mal erinnert es an die Härte von Shades of God, mal an den epischen Atem von Icon, mit Holmes’ Growls und Clean-Gesang in perfekter Balance und diesen unverwechselbaren, jammernden Soli von Mackintosh, die nur er so spielen kann.
Dieses Gefühl zieht sich durch das gesamte Album: „Salvation“ etwa atmet die Atmosphäre jener Zeit, wird von Alan Averills (Primordial) unverkennbarer Stimme veredelt und wächst trotz seiner sieben Minuten nie ins Langweilige. „Silence Like the Grave“ öffnet mit Keyboardklängen, die fast eins zu eins an „True Belief“ erinnern, und könnte direkt auf Icon stehen. Selbst wenn Paradise Lost kleine Ausbrüche wagen – etwa das episch aufgebaute „Lay a Wreath Upon the World“ mit Heather Thompson als Gastsängerin und Streicherarrangements – bleibt das Gesamtbild stimmig: dunkel, erhaben, kraftvoll.
Besonders stark ist die Art, wie sich alte Stilmittel neu verweben. „Diluvium“ könnte glatt ein verlorener Track von Shades of God sein, während Songs wie „Savage Days“, „Sirens“ oder „Deceivers“ eher die Rolle solider Album-Tracks übernehmen: sie runden das Werk ab, ohne in die oberste Liga der Highlights vorzustoßen. Den Abschluss bildet „The Precipice“, eine düstere Gothic-Doom-Nummer, die sich von schwerem Beginn zu einem treibenden Mittelpart aufbaut und am Ende wieder in Lava zäh versinkt – ein würdiger Schlusspunkt.
Fast schon kurios ist, dass zwei der besten Stücke nur als Bonus auf der Deluxe-Edition enthalten sind. „This Stark Town“ gehört mit seinem Wechselspiel aus Clean Vocals, Growls und harschen Gesangslinien für mich zu den stärksten Songs, während „A Life Unknown“ so sehr nach Draconian Times klingt, dass man glauben könnte, er sei 1995 liegengeblieben. Für mich sogar der beste Song des Albums – und doch bleibt er den Käufern von Jewelcase und Vinyl verwehrt. Eine fragwürdige Entscheidung.
Natürlich sind Nick Holmes und Gregor Mackintosh die prägenden Figuren, doch auch der Rest der Band trägt entscheidend zum Gelingen bei: Aaron Aedy mit seiner massiven Rhythmusgitarre, Steve Edmondson mit unaufdringlich-präzisem Bassspiel, das den Sound trägt, ohne je in Virtuosität zu verfallen, und Guido Montanarini, der die Drums organisch, lebendig und mit eigenen Ideen ins Album hämmert. Gerade die Schlagzeugarbeit klingt angenehm unsteril und hebt die Produktion auf ein hohes Niveau.
Fazit:
Ascension ist für mich ein Album, das wachsen musste. Es hat ein paar Durchläufe gebraucht, um mich komplett zu packen – aber jetzt hat es mich restlos überzeugt. Paradise Lost klingen hier so frisch wie seit drei Jahrzehnten nicht mehr, vereinen die Essenz ihrer Klassiker mit moderner Wucht und zeigen, dass sie auch 2025 noch zu absoluten Sternstunden fähig sind.
Damit komme ich aber in eine gewisse Zwickmühle: Tragic Idol (2012) und Obsidian (2020) habe ich damals beide mit 9,5 bzw. 10 Punkten bewertet. Ascension ist für mich jedoch klar stärker als diese beiden, weshalb es fairerweise auch die bessere Note bekommen müsste. Eigentlich müsste ich also so ehrlich sein und den beiden Vorgängern im Nachhinein eine Note abziehen. Da die Skala nach oben jedoch bei 10 endet, bleibt mir fast nur der augenzwinkernde Ausweg à la Spinal Tap: 11 von 10.
Dennoch darf man nicht vergessen: Alben wie Icon, Shades of God oder Draconian Times haben über Jahrzehnte hinweg den Test der Zeit bestanden. Ob Ascension das ebenfalls gelingt, wird sich erst zeigen. Doch in der Momentaufnahme ist es für mich (mittlerweile) das stärkste Paradise-Lost-Album seit Draconian Times.
© Nuclear Blast Records
Trackliste:
1. Serpent on the Cross (6:12)
2. Tyrant’s Serenade (4:20)
3. Salvation (7:07)
4. Silence Like the Grave (4:46)
5. Lay a Wreath Upon the World (4:51)
6. Diluvium (5:47)
7. Savage Days (3:54)
8. Sirens (4:46)
9. Deceivers (3:37)
10. The Precipice (5:42)
Deluxe Edition:
11. This Stark Town (5:38)
12. A Life Unknown (4:10)
Bewertung
Zusammenfassung
+ Rückkehr zu den Vibes von Shades of God, Icon und Draconian Times
+ Nick Holmes in Höchstform – Growls, Cleans und harsche Vocals auf Topniveau
+ Organische, druckvolle Produktion ohne sterile Kälte
– Bonustracks sind stärker als mancher Albumtrack und hätten regulär draufgemusst